Was bedeutet eigentlich "alleinerziehend?"

Titelbild Blog_bke-Elternberatung-Vater sitzt mit Kleinkind am Eßtisch

Immer wieder, beim Lesen von Fachartikeln, beim Hören von Podcasts oder bei der Teilnahme an Fachveranstaltungen, beschäftigt mich der Gedanke: Wer ist eigentlich alleinerziehend? Stimmt dieser Begriff noch so, wie er bisher verstanden worden ist? Früher war nicht alles besser. Vieles war gut und einiges klarer. Z.B. der Begriff „alleinerziehend“. Das könnte zumindest vermutet werden, aber ist das wirklich so?

„Alleinerziehend“ – ein diskriminierender Begriff?

Obwohl ich manchmal denke, dass die Forderungen nach sprachlicher Anpassung übertrieben sind, bin ich davon überzeugt, dass es wichtig ist, wie Fachleute, besonders diejenigen, die sich mit Trennung und Scheidung befassen, mit Fachbegriffen umgehen.
Der Begriff "alleinerziehend" wirkt auf mich diskriminierend. Er suggeriert, dass eine Elternperson allein gelassen wird, während die andere sich unbeschwert dem Leben widmet. Doch meiner Erfahrung nach ist dies selten der Fall. Oft bleibt eine Elternperson alleinerziehend, weil der Konflikt mit dem anderen Elternteil die Bedürfnisse der Kinder überschattet.

Wer gilt als alleinerziehend?

In der Regel wird die Elternperson als alleinerziehend bezeichnet, bei der das Kind gemeldet ist. Aber ist das heute noch angemessen? Schauen wir uns dazu kurz die "klassische" Familienstruktur an:

Traditionelle Familienstrukturen

Der Vater arbeitet Vollzeit, die Mutter Teilzeit oder vielleicht in einem Minijob und kümmert sich um die Familienarbeit. Die Kinder sehen den Vater möglicherweise nur selten, da er lange Arbeitszeiten hat und am Wochenende mit Arbeiten am Haus oder in der Wohnung beschäftigt ist. Die Mütter in solchen Familien gelten jedoch nicht als alleinerziehend, obwohl sie es meiner Meinung nach sind.

Neue Familienkonstellationen

Ein anderes Szenario: Die Eltern leben getrennt, die Mutter übernimmt die Hauptverantwortung für die Familie. Die Kinder sind noch klein, die Mutter hat sich neu verliebt und der neue Partner unterstützt sie liebevoll, sowohl emotional als auch praktisch. Dennoch wird diese Mutter klassischerweise als alleinerziehend betrachtet. Ist das noch zeitgemäß?

Betrachtung des Betreuungsmodells

Das Betreuungsmodell allein sagt wenig darüber aus, wer tatsächlich die meiste Erziehungsarbeit leistet. Ein Residenzmodell kann bedeuten, dass der andere Elternteil regelmäßig Aufgaben übernimmt, wie Arztbesuche oder die Organisation von Freizeitaktivitäten. Auch im Wechselmodell kann eine Elternperson den Großteil der Erziehungsarbeit übernehmen. Ist es also wichtig, ob jemand als alleinerziehend gilt oder nicht?

Statistiken und Realität

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) weist darauf hin, dass von 10 Alleinerziehenden-Familien in 9 Fällen die Kinder überwiegend bei den Müttern leben. Diese Zahl sagt aber nichts darüber aus, ob die Kinder „nur“ dort gemeldet sind oder ob auch in diesen Haushalten der größte Teil und falls ja, in welcher Größenordnung, die Erziehungs- und Betreuungsarbeit übernommen wird.  (Leider gibt es keine Möglichkeit, zwei Meldeadressen für Kinder einzurichten. Was die Trennungsfolgen oft noch schwieriger macht. So ist z.B. der Fahrschein für den Schulbus nur vom Wohnort des Elternteils gültig, bei dem das Kind gemeldet ist.)

Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) geht davon aus, dass fast jedes 4. Kind in einer Familie groß wird, in dem nur eine Elternperson lebt. Diese Aussage allein könnte das Bild verfälschen. Denn: Das Kind ist dort gemeldet. Doch die Meldung allein sagt wenig über die tatsächlich getragene Verantwortung aus.

Fazit

Ich denke, dass Forschungen angepasst werden müssen, um Aspekte wie Unzufriedenheit, soziale Auffälligkeiten und Leistungsabfälle in der Schule besser zu verstehen. Diese hängen meiner Meinung nach nicht nur oder vor allem mit dem Status "Alleinerziehend" zusammen, sondern vielmehr davon, wie viel Verantwortung Eltern nach einer Trennung übernehmen, wie hoch das Konfliktpotential ist und wie gut die Zusammenarbeit funktioniert. Es ist wichtig, dass die verschiedenen Fachkräfte, die sich mit den Folgen von Trennungen befassen, verstärkt darauf achten, wie getrenntlebende Eltern ihre Kinder sehen können, ohne dabei in Konflikte zu geraten. Diese Frage ist für die Kinder viel wichtiger als das Betreuungsmodell. Das DJI fordert daher, den Fokus stärker auf die Bedürfnisse der Kinder zu legen und den Eltern Unterstützung bei der Suche nach professioneller Hilfe anzubieten. Es ist bekannt, dass Beratung und Therapie in solchen Situationen entscheidend helfen können. Dafür ist eine enge Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche, unabhängig von den Kosten, erforderlich.

Autor: Diplom Sozialpädagoge Ulric Ritzer-Sachs

 

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